27. November 2025
Digitale Souveränität: Was die Regierungsrede für die Gestaltung moderner digitaler Systeme bedeutet
Autor: Christoph Calabek, Principal Strategy & Business Development

In seiner Rede vom 18. November 2025 hebt Bundeskanzler Friedrich Merz die Bedeutung der digitalen Souveränität hervor. Hinter diesem politischen Begriff verbergen sich jedoch konkrete technische Herausforderungen, die für Organisationen relevanter sind als jede strategische Formulierung.
Letztlich sind drei Kernfaktoren entscheidend: die Gestaltbarkeit von Softwarearchitektur, die Frage technologischer Abhängigkeiten und die langfristige Stabilität digitaler Systeme.
Digitale Souveränität ist ein Architekturthema. Die Individualentwicklung von Software schafft die strukturelle Grundlage dafür.
Auf den ersten Blick klingt „digitale Souveränität” wie ein politisches Buzzword. Technologisch gesehen bedeutet es jedoch etwas sehr Konkretes: Systeme müssen so gestaltet sein, dass sie kontrollierbar, austauschbar und erweiterbar bleiben. Genau hier entscheidet sich, ob digitale Souveränität möglich ist.
Viele Organisationen setzen auf “Off the shelf”-Lösungen und Plattformen, die mit wenig Konfiguration eine schnelle Umsetzung versprechen, dabei aber nur wenige strukturelle Spielräume bieten. Wer jedoch langfristig die Kontrolle behalten will, benötigt die Möglichkeit, Architekturentscheidungen zu treffen, die nicht von externen Produkt-Logiken abhängig sind. Dabei spielt die Individualentwicklung eine zentrale Rolle, da sie es ermöglicht, Datenmodelle, Schnittstellen und Prozesslogiken so zu gestalten, dass sie veränderbar bleiben – unabhängig von Roadmaps oder Verwertungsschemata einzelner Anbieter.
Aus dieser Perspektive ist Individualentwicklung entlang von Standards keine Ideologie, sondern eine strategische Notwendigkeit, da sie die Gestaltbarkeit erzeugt, die vorgefertigte Software in kritischen Bereichen oft nicht liefern kann. Organisationen, die ihre Grundarchitektur bewusst entwickeln, statt sie zu „übernehmen“, behalten langfristig deutlich mehr Handlungsfreiheit.
Nicht die Nutzung externer Systeme führt zu Abhängigkeiten, sondern die fehlende Alternativfähigkeit.
Die Rede des Bundeskanzlers adressiert die Abhängigkeit Europas von globalen Plattformen und Infrastrukturen. Praktisch wird dieser Punkt jedoch erst relevant, wenn man ihn auf Organisationsebene herunterbricht: Es ist nicht problematisch, moderne Cloud- oder KI-Services zu nutzen und insbesondere Skalierung auszulagern. Problematisch wird es erst, wenn der technische Aufbau so gestaltet ist, dass Alternativen nicht mehr realistisch sind.
In vielen digitalen Landschaften entsteht diese Abhängigkeit nicht durch bewusste Entscheidungen, sondern durch die impliziten Strukturen von vorgefertigter Software. Die Prozesse passen sich der Plattform an, statt dass sich die Plattform den Prozessen anpasst. Dadurch verengt sich mit der Zeit der Spielraum und Systeme, die heute effizient erscheinen, lassen sich morgen möglicherweise nicht mehr an neue Anforderungen anpassen.
Genau hier setzt Individualentwicklung an. Sie ermöglicht es, Schnittstellen bewusst offen zu halten, proprietäre Abhängigkeiten zu begrenzen und zentrale Funktionen so zu gestalten, dass sie langfristig austauschbar bleiben. Die technische Entscheidungsfreiheit verdoppelt sich damit nicht nur abstrakt, sondern auch konkret: Daten lassen sich bewegen, Komponenten lassen sich austauschen und neue Technologien lassen sich integrieren. Wer Alternativfähigkeit in seiner Systemarchitektur verankert, schafft echte digitale Souveränität. Nicht, weil alles selbst gebaut wird, sondern weil nichts so gebaut ist, dass es sich nicht mehr bewegen lässt.
Individuelle Architektur ist ein entscheidender Faktor für die Resilienz digitaler Infrastruktur.
In der Rede des Bundeskanzlers wird deutlich, dass digitale Systeme mittlerweile Teil der sicherheits- und wirtschaftsrelevanten Infrastruktur sind. Damit verändert sich auch der Bewertungsmaßstab: Effizienz allein reicht nicht mehr aus. Systeme müssen auch dann stabil funktionieren, wenn einzelne Teile ausfallen, sich regulatorische Rahmen verändern oder Anbieter ihre Produkte anpassen.
Resilienz bedeutet in diesem Zusammenhang, digitale Landschaften so zu gestalten, dass sie flexibel auf Veränderungen reagieren können. Dies umfasst strukturelle Redundanzen, aber auch die Möglichkeit, Abhängigkeiten zu verringern oder Funktionalitäten zu migrieren. Dieser Punkt wird von vielen Organisationen unterschätzt, da er sich vor allem in Krisensituationen zeigt – etwa dann, wenn ein Anbieter seine Dienste einstellt oder sich die Sicherheitsanforderungen ändern.
Die individuelle Entwicklung bietet hierfür einen wesentlichen Vorteil: Sie erlaubt es, Systemlogiken präzise zu definieren und modular aufzubauen. Dadurch lassen sich Teile eines Systems austauschen, erweitern oder neu gestalten, ohne dass die gesamte Architektur destabilisiert wird. Resilienz entsteht somit nicht zufällig, sondern durch bewusste Strukturierung.
Langfristig stellt sich nicht die Frage, ob ein System effizient ist, sondern ob es auch dann funktioniert, wenn sich die Umgebung ändert. Organisationen, die diesen Gedanken frühzeitig integrieren, treffen robustere und nachhaltigere Technologieentscheidungen.
Was bedeutet das für die Praxis?
Aus den Ausführungen des Bundeskanzlers ergibt sich auch für die operative und strategische Planung digitaler Systeme sicherlich kein radikal neuer Impuls, aber eine klare Bestätigung dessen, was technologisch längst gilt. Entscheidend ist nicht, welche Software genutzt wird, sondern wie gestaltbar die Architektur eines Systems bleibt.
Für moderne Organisationen lohnt es sich daher, drei Aspekte besonders ernst zu nehmen:
- Erstens sollte geprüft werden, wie gut zentrale Systeme migrierbar sind und ob Daten ohne strukturelle Risiken bewegt werden können.
- Zweitens ist ein klares Verständnis dafür erforderlich, an welchen Stellen im System Abhängigkeiten entstehen können – nicht nur technologisch, sondern auch prozessual.
- Und drittens sollten resilienzorientierte Designprinzipien in strategische Entscheidungen eingebettet werden, damit digitale Systeme nicht nur im Idealzustand, sondern auch unter veränderten Bedingungen funktionieren.
Individualentwicklung spielt dabei keine dekorative, sondern eine strukturelle Rolle: Sie ermöglicht genau die Gestaltbarkeit, die digitale Souveränität technisch voraussetzt. Damit wird sie nicht zum Gegenmodell zu vorgefertigter Software, sondern zum Werkzeug, um langfristige Entscheidungsfreiheit zu sichern.



