Einführung in die digitale Barrierefreiheit

Autor: Fynn Ellie Becker

Das Web ist für alle da.

Tim Berners-Lee

Digitale Barrierefreiheit ist ein wachsendes und wichtiges Feld, das darauf abzielt, ein integratives Web für eine vielfältige Gruppe von Menschen zu schaffen. Web-Barrierefreiheit wurde in der Europäischen Union 2016 mit der Web Accessibility Directive und 2019 mit dem European Accessibility Act gesetzlich verankert.

Bevor wir in die digitale Barrierefreiheit eintauchen, wollen wir einige theoretische Grundlagen klären.

Behinderungen und Barrieren

Um die Bedürfnisse und Anforderungen an Barrierefreiheit zu verstehen, müssen wir den Unterschied zwischen Behinderungen und Barrieren begreifen.

Behinderungen sind etwas, das Menschen haben, sie sind ihnen innewohnend. Barrieren hingegen werden von der Gesellschaft geschaffen und Menschen auferlegt, sie sind äußerlich. Barrierefreiheit beseitigt Barrieren, nicht Behinderungen.

Behinderungen

Wie bei Menschen gibt es auch bei Behinderungen viele Formen und Ausprägungen. Die folgenden Kategorien sind als Übersicht hilfreich, aber es gibt erhebliche Überschneidungen, und Menschen können in mehr als eine Kategorie fallen:


    •    Körperliche Behinderungen
    •    Sensorische Behinderungen
    •    Sprachstörungen
    •    Psychische Störungen
    •    Entwicklungsstörungen
    •    Geistige Behinderungen

Beachten Sie, dass nicht alle Behinderungen auf den ersten Blick oder im Gespräch erkennbar sind. Während ein Rollstuhl oder ein Blindenstock sichtbare Indikatoren sind, werden Behinderungen wie Angststörungen, Autismus oder Legasthenie auch als unsichtbare Behinderungen bezeichnet.

Physische Barrieren

Wenn Sie das nächste Mal durch Ihre Heimatstadt gehen, achten Sie auf alle physischen Barrieren, die für behinderte Menschen Hindernisse darstellen, zum Beispiel:


    •    Fehlende abgesenkte Bordsteine an Zebrastreifen
    •    Fehlende oder falsche taktile Leitsysteme
    •    Treppen ohne Rampen oder Podeste
    •    E-Scooter, die auf dem Gehweg verstreut stehen
    •    Der berüchtigte Aufzug am Bahnhof, der nie funktioniert

crosswalk in Aruba

Hoher Bordstein ohne taktile Leitsysteme (beschnitten)

Curb cut with tactical paving to cross street with a wheelchair

Abgesenkter Bordstein mit taktilem Leitsystem (Quelle, beschnitten)

Physische Barrieren sind greifbar und daher auch für Menschen ohne Vorkenntnisse erkennbar. In manchen Fällen erleben auch nicht-behinderte Menschen diese Barrieren selbst, etwa wenn sie ein Fahrrad eine Treppe hochtragen müssen.

Digitale Barrieren

Digitale Barrieren sind oft weniger offensichtlich und erfordern technisches Wissen, um sie zu erkennen. Beispiele sind:


    •    Niedriger Farbkontrast
    •    Fehlende Alternativtexte
    •    Interaktive Elemente ohne Namen
    •    Videos ohne Untertitel
    •    Lange Ladezeiten

Alle Beteiligten an der Erstellung einer Website können Barrieren einführen — vom Design über die Entwicklung bis zur Inhaltserstellung. Der „Shift Left“-Ansatz ist ein mentales Modell, um Verantwortlichkeiten frühzeitig im Prozess zu verankern und das Bewusstsein in allen Abteilungen für digitale Barrieren und deren Vermeidung zu schärfen.

Die Notwendigkeit von Barrierefreiheit

Wir sind alle nur vorübergehend fähig.

Cindy Li

Etwa 1 von 4 Menschen hat irgendeine Form von Behinderung, das sind allein in der EU über 100 Millionen Menschen.

Um Behinderungen besser zu verstehen, hat Microsoft Inclusive Design das Persona Spectrum (PDF) erstellt. Diese Tabelle zeigt, welche zeitlichen Dimensionen Behinderungen haben können und wie auch Menschen ohne Behinderungen betroffen sein können.

Assistive Technologien

Behinderte Menschen können assistive Technologien nutzen, um digitale Oberflächen zu bedienen, die ihnen sonst unzugänglich wären. Vielleicht haben Sie schon von Screenreadern gehört, aber es gibt viele weitere Tools und Techniken, je nach Behinderung und persönlichen Vorlieben. Mehrere assistive Technologien können kombiniert werden, um den individuellen Bedürfnissen eines Nutzers gerecht zu werden.

Beispiele für assistive Technologien:

Sensorische Behinderungen

  • Screenreader
  • Braillezeile
  • Bildschirmvergrößerung und Zoom
  • Hörgerät
  • (Automatische) Untertitel

Körperliche Behinderungen

  • Sprachsteuerung
  • Tastaturmaus und virtuelle Tastatur
  • Schalter, Joystick, Trackball
  • Blicksteuerung
  • Smart-Home-Geräte

Kognitive Behinderungen

  • Visualisierung (z. B. Mind Mapping)
  • Zeitmanagement
  • Text-to-Speech
  • Rechtschreib- und Grammatikprüfung
  • Fokus- und Lesemodus

Einige dieser Tools sind möglicherweise nicht sofort als assistive Technologie erkennbar, da sie auch von nicht-behinderten Menschen genutzt werden, z. B. Browser-Zoom, Sprachsteuerung oder Smart-Home-Geräte.

Eine Website muss bestimmte Standards erfüllen, um die Kompatibilität mit assistiven Technologien und ein grundlegendes barrierefreies Erlebnis sicherzustellen. Die W3C Web Accessibility Initiative (WAI) ist die treibende Kraft hinter der Standardisierung der Web-Barrierefreiheit und veröffentlicht u. a. die Web Content Accessibility Guidelines.

Web Content Accessibility Guidelines (WCAG)

Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind der De-facto-Standard für Web-Barrierefreiheit. Das Dokument listet testbare Erfolgskriterien auf, die eine Website erfüllen muss, um als weitgehend barrierefrei zu gelten. Die begleitenden Understanding Docs und der Authoring Practices Guide Patterns bieten nützliche Ressourcen für Entwickler, um die Kriterien umzusetzen.

WCAG ist in vier Hauptbereiche gegliedert, die auch als POUR-Prinzipien bezeichnet werden:

  • Wahrnehmbar (Perceivable)
  • Bedienbar (Operable)
  • Verständlich (Understandable)
  • Robust (Robust)

Jedes Erfolgskriterium wird einem von drei Konformitätsstufen zugeordnet:

  • Stufe A: Minimum, meist nicht ausreichend für Barrierefreiheit
  • Stufe AA: Grundlage, gesetzlich vorgeschrieben
  • Stufe AAA: Höchste Stufe, nicht für alle Inhalte erreichbar

WCAG Stufe AA gilt als Mindestziel für Webentwickler. Bestimmte Funktionen können unter Umständen nicht AAA- oder sogar AA-konform umgesetzt werden. In diesen Fällen muss eine Alternative bereitgestellt werden, die eine gleichwertige Erfahrung bietet. Zum Beispiel sollte eine Karte, die per Touch- und Maus-Drag bewegt werden kann, auch ein Suchfeld und Tastaturkürzel für das Navigieren bieten.

Beachten Sie, dass die Einhaltung von WCAG nicht automatisch eine barrierefreie Website garantiert. Tests mit assistiver Technologie und behinderten Nutzer:innen sind ratsam und teilweise notwendig, um sicherzustellen, dass komplexe interaktive Komponenten tatsächlich zugänglich sind.

Obwohl Webentwickler zur Befolgung von WCAG angehalten werden, ist in der Praxis ein großer Teil des Webs weiterhin unzugänglich, wie das WebAIM Million-Projekt zeigt. Um gegenzusteuern, führen immer mehr Länder Gesetze zur digitalen Barrierefreiheit ein, auch die EU.

EU-Gesetzgebung

Zwei wichtige EU-Richtlinien verpflichten die Mitgliedsstaaten zur Barrierefreiheit von Websites und anderen digitalen Schnittstellen. Viele Nicht-EU-Länder haben ähnliche Regelungen.

Web Accessibility Directive

Die Web Accessibility Directive wurde 2016 verabschiedet und betrifft digitale Produkte des öffentlichen Sektors. In Deutschland ist dieses Gesetz als BITV (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) bekannt.

Die Anforderungen basieren auf WCAG 2.0 mit einigen zusätzlichen Vorgaben.

European Accessibility Act

Ergänzend zur Web Accessibility Directive deckt der European Accessibility Act (EAA) digitale Produkte des privaten Sektors ab. Der EAA wurde 2019 verabschiedet, bis Juni 2025 müssen die Anforderungen umgesetzt sein. Die deutsche Version des Gesetzes heißt BFSG (Barrierefreiheitsstärkungsgesetz).

Die technische Grundlage für den EAA ist EN 301 549, der direkt auf WCAG 2.1 verweist (bald aktualisiert auf 2.2). Damit wird WCAG praktisch zum Gesetz für alle Websites privater Unternehmen, mit einigen Ausnahmen für Kleinbetriebe.
 

Quelle der Bilder oben: Erstes Bild | Zweites Bild

Artur Schwarz

Artur Schwarz

Weitere Fragen? Sprechen Sie uns an oder buchen Sie einen unverbindlichen Termin!

artur@factorial.io
Illustrated Thumbnail for the Recorded session about Digital Accessibility, presented by Fynn Ellie Becker

Breaking Barriers: Digitale Barrierefreiheit erklärt

Der Inhalt dieses Blogposts wurde als Session während unseres Frontend & Friends Meetups am 4. März 2025 präsentiert. Sehen Sie sich die vollständige Aufzeichnung des Vortrags auf unserem YouTube-Kanal an.

Aufzeichnung ansehen

Verwandte Artikel